Gleichgewicht der Kräfte: ein neuer Kalter Krieg

“Dieser Krieg wird momentan nicht mit Truppen und Waffen geführt, sondern mit Informationen.”

 
Illustrationen von Radio

Der Kalte Krieg: Fortwährende militärische und ideologische Spannungen hielten den Planeten über ein halbes Jahrhundert in Atem – ein andauernder Machtkampf, der aus den Entwicklungen des Zweiten Weltkriegs hervorging; mit dem sowjetischen Ostblock auf der einen Seite und seinen westlichen Gegenspielern unter maßgeblicher Führung von Washington und London auf der anderen.

Beide Seiten verfügten über ein beachtliches Arsenal an Nuklearwaffen und 1962 stand die Welt für 13 Tage kurz vor dem Abgrund. Die kubanische Regierung hatte bei ihren kommunistischen Verbündeten der Sowjetunion die Stationierung von Mittelstreckenraketen erbeten.

Um die befürchtete Bedrohung durch sowjetische Waffen vor der eigenen Haustür abzuwenden, drohten die USA erst mit einem Angriff auf Kuba und kündigten zudem an, die sowjetischen Transportschiffe nötigenfalls zu versenken.

Hilflos hielt die Welt den Atem an, während die Schiffe sich der Karibikinsel näherten. Erst in letzter Sekunde stoppte sie der Anruf aus Moskau. Die beiden Mächte fanden zumindest für diesen Moment eine Einigung und die Vereinigten Staaten versicherten, von einer Invasion Kubas abzusehen. Der drohende Atomkrieg wurde knapp verhindert.

Doch nicht nur Atomwaffen waren im Spiel. Wie sich herausstellte, experimentierten die Sowjets zu dieser Zeit bereits mit Pocken als potentiellem biologischem Kampfstoff. Und fernab der Erde lieferten sich Astronauten und Kosmonauten ein Wettrennen im All, das auf beiden Seiten zur patriotischen Stimmungsmache diente. Vor allem aber gab es Spionage – ein Kampf, der besonders erbittert geführt wurde.

Auf Seite des Ostens stand der KGB, „Schwert und Schild“ der Sowjetunion. Auf westlicher Seite standen seine Gegenspieler, allen voran die amerikanischen Geheimdienste (etwa die CIA) und der britische Secret Intelligence Service (SIS, oder MI6).

Spione schienen überall zu sein und ihnen war jedes Mittel recht, um den Feind auszuhorchen. Manche waren Doppel- oder sogar Tripel-Agenten. Mit einem Fingerschnippen konnten Menschen verschwinden. Jeder verdächtigte jeden in diesem Konflikt, der sich von Kuba bis zur koreanischen Halbinsel zog und ganze Städte und Länder teilte.

Am 13. August 1961 gingen die Einwohner von Ostberlin nichtsahnend schlafen, um am nächsten Morgen von einer Mauer umschlossen aufzuwachen – die Regierung der DDR wollte die Abwanderung ihrer Bürger in Richtung Westen unterbinden. Checkpoint Charlie, der neue Grenzübergang an der Berliner Mauer, wurde zum greifbaren Sinnbild des Eisernen Vorhangs und zu einem Ort, an dem sich die Spannungen zwischen Ost und West über drei Jahrzehnte manifestierten.

2015

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Seit dem Mauerfall sind nun 26 Jahre vergangen und es scheint, als stünden sich Russland und der Westen mittlerweile wieder ebenso feindlich gegenüber wie zu Zeiten des Kalten Kriegs.

Beide Seiten sehen ihren Gegenspieler in der Aggressorenrolle. Russland wirft den USA und ihren Verbündeten eine Arroganz vor, die verantwortlich sei für die Unruhen in Syrien und im Mittleren Osten. Der Westen kritisiert Moskau für die aktuellen Vorgänge in der östlichen Ukraine und auf der Krim.

Diesen September, nur wenige Tage nach einem Gespräch zwischen US-Präsident Barack Obama und Russlands Präsidenten Wladimir Putin, begann Russland mit einer Luftoffensive in Syrien. Laut Kreml galten die Angriffe den Milizen des IS. Dies wurde von Seiten der Amerikaner jedoch bereits bezweifelt und stattdessen gab man an, dass es sich bei den angegriffenen Zielen um Gegner des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad gehandelt habe.

Die Frage nach Putins Motiven ist schwer zu beantworten: Will er von der Situation in der Ostukraine ablenken? Versucht er, Russland aus der Isolation zu holen und eine Allianz zu formen, um Syrien zu helfen? Und wo steht in diesem Spiel der Iran – als weitere Atommacht, die Assad unterstützt?

Obama sagte diesbezüglich, dass niemand Interesse daran haben kann, in Syrien einen amerikanisch-russischen Stellvertreterkrieg voranzutreiben, doch dies ist laut dem republikanischen Senator John McCain genau das, was aktuell passiert.

Momentan konzentriert sich der Kreml außenpolitisch darauf, die Verbindungen zu den Verbündeten Russlands zu stärken. Laut Umfragen steigt Putins Beliebtheit weiter, während die staatlichen Medien Russlands den nationalen Wiederaufstieg unter seiner Führung bejubeln.

Währenddessen befindet sich der 32-jährige Hacker und ehemalige NSA-Angestellte Edward Snowden im Transitbereich Moskaus in einem rechtlich unklaren Schwebezustand. Der US-Bürger wird in seinem Heimatland der schweren Spionage beschuldigt und sucht nach seiner Flucht derzeit in Russland Asyl.

Die Schlachten der Moderne werden um Informationen geführt. Hacker aus China und Großbritannien sind die Spione der Neuzeit. Snowden hat aufgedeckt, wie die US-Geheimdienste eine umfassende Überwachung der US-Bürger verfolgen, gleichzeitig hat das „Hacktivist„-Kollektiv Anonymous keine Mühen gescheut, um die russische Regierung anzugreifen und bloßzustellen.

Sieht so der Kalte Krieg 2.0 aus? Und was passiert als Nächstes?

Ein neuer Eiserner Vorhang?

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Während des Kalten Kriegs war Europa durch den Eisernen Vorhang von der Sowjetunion abgeschirmt – eine Grenze, die sich mitten durch Deutschland zog. Genau diese Teilung – einen zweiten Eisernen Vorhang – sieht nun der arabische Sender Al Jazeera in Russlands erstarkenden Verbindungen zu Moldawien, Georgien und der Ukraine. Die Grenzen sind zwar nicht mehr unüberwindbar, aber zweifelsfrei da.

Westlich an Russland grenzen die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen – drei Länder, die sich dem Siegel „postsowjetisch„ verweigern. Alle drei sind Mitgliedsstaaten der EU. In Estland liegt der östlichste Stützpunkt der NATO, also in direkter Nähe zur russischen Grenze und bisher relativ unbehelligt – bis jetzt.

Denn beide Seiten rüsten auf und die Spannungen sind offensichtlich: Russische Berichte warnen davor, dass die USA sich auf einen „hybriden„ Krieg vorbereiten und eine Speerspitze aus 4.000 Soldaten bereitgestellt haben, um die Region zu verteidigen.

Gleichzeitig ist Kaliningrad wieder ins Zentrum russischer Militäraktivitäten gerückt. Die russische Enklave zwischen Litauen und Polen ist das Ass im Ärmel Russlands, und wie Radio Free Europe berichtet, aufgrund der schieren Zahl an Truppen und Waffen – Atomsprengköpfe inklusive – zurzeit der am stärksten militarisierte Ort Europas.

Die baltischen Staaten sind nervös. Steht ein Angriff Russlands bevor? Alle drei haben bereits den Beistand der NATO ersucht, in Litauen wurde die Wehrpflicht wieder eingeführt und die Regierung hat ein 98-seitiges Dossier herausgegeben, um den Bürgern das „richtige Verhalten in der Extremsituation eines Krieges“ zu erläutern.

In Estland, wo Russischstämmige gut ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, beschwören aktuelle Ereignisse unweigerlich den einstigen Kalten Krieg. Erst im September wurde ein estländischer Soldat in einer Nacht-und-Nebel-Aktion über die Grenze nach Russland verschleppt. Und auch der gegenseitige Austausch von verhafteten Agenten, wie er vor Kurzem zwischen den beiden Nationen stattgefunden hat, ruft längst vergessen geglaubte Bilder in Erinnerung.

Was, wenn …?

Durch russisches „Friendly Fire“ verstümmelte Familie bringt Estland auf Kriegskurs.

Januar 2016

Die Regierung Estlands hat überraschend angefangen, das Land offiziell auf einen Krieg vorzubereiten, nachdem eine Familie in Grenznähe durch russisches „Friendly Fire“ schwer verletzt wurde. Zwei Personen befinden sich aktuell noch in einem kritischen Zustand.

Auch wenn der russische Präsident Wladimir Putin bereits um Entschuldigung gebeten hat, beschreibt ein estländischer Gegenspieler Toomas Hendrik Ilves die Ereignisse als Akt unkontrollierter Aggression.

Das Land bildet nun die Demarkationslinie zwischen der NATO und russischen Streitkräften, die beide in den letzten zwei Jahren ihre militärische Präsenz dort deutlich erhöht haben.

Die bisher nicht näher bekannte fünfköpfige Familie picknickte gerade neben einer Kirche im Grenzgebiet, als sie von einer Maschinengewehrsalve getroffen wurde.

Die offiziellen Kriegsvorbereitungen werden durch den Rückhalt der Europäischen Union gestärkt.

Die angrenzenden Staaten Litauen und Lettland haben sich mit Estland solidarisiert, wenngleich offengeblieben ist, wie weit sie in dieser Sache gehen werden. Infolge der russischen Annektierung der Krim hatten bereits 2013 alle drei baltischen Staaten eine erhöhte Präsenz der NATO erbeten.

Die „erbitterte“ nukleare Aufrüstung des Westens

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Aber die Schuld lässt sich nicht allein auf Russland schieben. „Der Kalte Krieg 2.0 ist ein Produkt des Westens“, argumentieren russische Insider mit Verweis auf die erbitterte Aufrüstung in den östlichen Grenzgebieten.

Das übergreifende Nuklearprogramm der NATO schließt mittlerweile nicht nur das Baltikum, sondern auch Länder wie Rumänien, Bulgarien und Slowenien ein.

Seit dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990ern war Russland vom Kriegskurs abgerückt und vielmehr damit beschäftigt, sich um das Wiedererlangen einstiger Größe zu bemühen. Da jedoch die westlichen Mächte fortwährend ihre Kriegsbereitschaft demonstrieren würden, bliebe Putin russischen Aussagen zufolge keine andere Wahl als zu reagieren.

Kalter Krieg 1.0 2015?

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Weit entfernt, an Russlands östlicher Grenze, braut sich zudem noch ein ganz anderer Konflikt zusammen. Dort laufen im kommunistischen Nordkorea die Vorbereitungen für den 70. Geburtstag der koreanischen Arbeiterpartei am 10. Oktober.

Die diplomatischen Spannungen mit Südkorea sind kurz vor dem Zerreißen. Nordkorea hat angedroht, „jederzeit“ zum Atomschlag bereit zu sein, wenngleich tausende Bürger hungern und vermutlich wenig anderes im Sinn haben als ihr bloßes Überleben.

Erst diese Woche wurde CNN-Reportern das aktuelle „Raumfahrtprogramm“ des Diktators präsentiert. Nordkorea betont die friedlichen Absichten hinter dem Programm, aber internationale Beobachter sind in Sorge, dass damit die technische Basis dafür gelegt wird, einen Nuklearsprengkopf auf jeden Teil des Planeten feuern zu können.

Diesen März hat Pjöngjang 2015 zum „Jahr der Freundschaft“ mit Russland erklärt. Zwei Atommächte, die sich gegen den Westen stellen, reichen sich die Hände.

Was, wenn …?

Nordkorea ersucht russische Unterstützung bei neuen Atomversuchen

November 2015

Man hatte bereits für den 10. Oktober damit gerechnet – zum 70. Geburtstag der koreanischen Arbeiterpartei –, doch es kam mit einem Monat Verspätung.

Nachdem die vorangegangenen Drohgebärden nicht den gewünschten Effekt erzielt hatten, kündigte Nordkorea eine weitere nukleare Testreihe als direkte Antwort auf die „Provokationen“ Südkoreas und der USA an.

Das Staatsfernsehen KCNA berichtete von einem „erfolgreichen“ Testlauf, der die USA und „ihre Marionetten“ die Schlagkraft Nordkoreas lehren werde. Beide Länder hatten kurz zuvor einen Antrag im UN-Sicherheitsrat unterstützt, aktuelle Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea zu erfassen.

Des Weiteren verkündete Nordkorea die volle Rückendeckung durch das verbündete Russland. Zuvor hatte KCNA von den großartigen Entwicklungen der beiden Länder auf allen Ebenen berichtet – politisch, wirtschaftlich und kulturell ebenso wie in Sachen Bildung, Kunst und Sport.

Dies blieb von Seiten des Kreml bisher unkommentiert, jedoch gab es von dort in der Vergangenheit harsche Kritik an Nordkoreas Bestrebungen als Atommacht, nachdem das Land 2003 aus dem internationalen Atomwaffensperrvertrag austrat.

Internationale Beobachter atmeten erleichtert auf, als sich die Jubiläumsfeierlichkeiten als friedliche Zusammenkunft tausender Bürger auf den Straßen Pjöngjangs entpuppte.

Der Konflikt wütet in der Ukraine

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Rund ein Jahr bevor Nordkorea öffentlich die „neue Freundschaft“ verkündete, zerfiel die Ukraine. Der prorussische Präsident Viktor Yanukovych wurde im Zuge eines breiten Aufstands aus dem Amt gejagt, weil er sich Europa verweigerte. Sein Nachfolger Petro Poroschenko gilt unter prorussischen Kräften als Handlanger des Westens.

Im März brachte Russland die angespannte Situation zum Eskalieren und forcierte die Annektierung der Krim, einer Halbinsel im Schwarzen Meer, ehemals Teil der Ukraine. Der Westen bewertete dies als Akt aggressiver Expansion, Putin hingegen sah darin den Triumph „patriotischer Stärke“ – die Wiedervereinigung der Krim mit ihrem Heimatland im Geiste. In einem kurzfristig anberaumten Referendum stimmten 95,5 % der Krimbewohner für den Zusammenschluss mit Russland.

Im weiteren Verlauf folgten Kämpfe in der Ostukraine, in denen pro-russische Rebellen mit der Regierung um die Herrschaft in der Region rangen. Die Gewalt eskalierte weiter und die Opferzahlen stiegen.

Vom Himmel geholt

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Im Juli wurden 283 Passagiere auf dem Flug von Amsterdam nach Kuala Lumpur zu tragischen Opfern dieses Konflikts, als ihr Flugzeug über dem Dorf Grabovo in der Ostukraine abgeschossen wurde.

Der Boden war mit Leichen übersät, manche noch in ihren Sitzen gefangen. Stofftiere, Reiseführer und Fotoalben waren über die Felder der östlichen Ukraine verstreut.

Während die grausigen Bilder die Medien bestimmten, fiel der Verdacht schnell auf ukrainische Separatisten – die ihre Luftabwehrraketen direkt von der russischen Armee bezogen hätten. Nur wenige Stunden nach dem schrecklichen Vorfall kündigten die Vereinigten Staaten heftigste Konsequenzen an, sollte sich der Verdacht bewahrheiten.

Es folgte der Auftritt eines selbsternannten britischen Analysten, der sich mit Youtube-Videos aus dem Krieg in Syrien beschäftigt hatte. Unter dem Pseudonym Bellingcat versuchte er – wie auch einige andere –, auf Basis von Social-Media-Bildern zu rekonstruieren, was passiert war. Schnell war er den Flugabwehrraketen vom Typ Buk auf der Spur.

Bellingcat – mit bürgerlichem Namen Eliot Higgins – und sein Team wühlten sich durch hunderte Bilder auf Facebook, Youtube und Twitter, um den genauen Standort des Geschosses zu bestimmen. Mehrere Bilder der fraglichen Waffe wurden in sozialen Medien veröffentlicht und führten das Team noch am selben Tag zur Stelle des Absturzes. Einen Tag später wurde eine Buk gesichtet, bei der eine Rakete fehlte.

Higgins schloss zusammenfassend, es gebe „eindeutige Beweise, dass Separatisten in der Ukraine über einen Buk-Raketenwerfer verfügen“, der mit ziemlicher Sicherheit von der russischen Armee stamme – was bis heute vom Kreml dementiert wird.

Gegenseitige Sanktionen

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Von Russlands Verhalten angesichts der Ereignisse in der Ukraine auf den Plan gerufen, beschloss der Westen umgehende Sanktionen. Russischen Banken wurden Kredite aus Europa verweigert, Waffendeals wurden auf Eis gelegt und auch der Ölhandel stand unter Beschuss. Die russische Wirtschaft rang nach Luft und der Westen drehte ihr weiter den Hals zu.

Als Antwort auf diese „aggressiven und überzogenen“ Sanktionen verbot Russland im Gegenzug den Import von Lebensmitteln aus dem Westen, unter anderem von Fleisch, Fisch und Milchprodukten. „Wir wurden dazu gezwungen“, kommentierte Premierminister Dimitry Medwedjew den Umstand, dass sich Käse-Liebhaber nun auf dem Schwarzmarkt umsehen mussten. Westliche Ketten wie McDonald’s – die bereits in den letzten Tagen der Sowjetunion den Weg nach Russland gefunden hatten – mussten nun scharfe Kontrollen über sich ergehen lassen.

Unterdessen nutzt der Kreml die Gelegenheit, um den Wert der heimischen Produkte von „Mütterchen Russland“ zu betonen. Zwar gibt sich die Regierung nach einem Jahr der Sanktionen zuversichtlich und präsentiert stolz die Berge an beschlagnahmtem Schmuggelkäse, doch zeigen erste Berichte, dass die Einschränkungen zu schmerzen beginnen.

Die Informations-Grenze

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Wenn das Ringen um Grenzregionen, Agentenaustausch, Sanktionen und potentielle Stellvertreterkriege bereits den Schatten des Kalten Kriegs heraufbeschwörten, wird diese Assoziation noch einmal unterstrichen durch den Kampf um Informationen und Daten.

Kritiker der Sowjetunion warfen damals vor allem der offiziellen sowjetischen Zeitung Prawda – auf Deutsch „Wahrheit“ – vor, dass sie von nichts weiter entfernt sei, als ihrem Namen gerecht zu werden. 25 Jahre später hat Putin die unabhängige Presse beinahe vollständig aus dem Land gedrängt, während die Propagandamaschine des Kremls, RT (ehemals „Russia Today“), weltweit expandiert und knapp 700 Millionen Zuschauer in über 100 Ländern erreicht.

Als Oppositionsführer Boris Nemtsov diesen Februar nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt erschossen wurde, war die öffentliche Wahrnehmung eindeutig. „Man muss nicht darüber diskutieren, dass es sich hierbei um eine 100 %ige Provokation handelt“, so Chefredakteur Dmitri Peskov. Dies kann laut Time Magazine nur eine Lesart bedeuten: dass der Mord von Russlands Feinden inszeniert wurde – nicht um das Opfer zum Schweigen, sondern das System in Verruf zu bringen, gegen das er vorgehen wollte.

Die ersten Berichte über den Absturz der MH17 waren ebenso kontrovers und rückten einen zweifelhaften Augenzeugen in den Fokus, der die Ukraine in der Schuldrolle sah. Für eine Journalistin, die daraufhin ihren Hut nahm, war das eindeutig zu viel.

„Ich bin für die Wahrheit“, schrieb Sara Firth auf Twitter und ergänzte später gegenüber dem Guardian, „es war eine offensichtliche und gezielte Fehlinformation und ich fand mich an einem Punkt, an dem ich das nicht mehr schönreden konnte.

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Der Aufstieg der Troll-Armee

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Als Putin 2005 RT aus der Taufe hob, verloren zahlreiche kritische Journalisten ihren Job. Diese konzentrierten sich schnell auf das Internet als Möglichkeit, um ohne Einschränkungen über Politik schreiben zu können – jenseits sowjetischer Zensur.

Doch auf einmal erschienen zahlreiche Stellenangebote für „Internetrecherche“ im Großraum St. Petersburg und kurz darauf explodierte die Zahl der Kommentare auf regierungskritischen Blogs förmlich.

Was, wenn …?

Internettrolle verlagern als Bürgerwehr ihren Angriff auf die Straße und greifen eine Demo der Opposition in Moskau an.

7. Mai 2016

Am Wochenende eskalierte eine Protestveranstaltung, nachdem eine Gruppe Online-Trolle ihren virtuellen Handlungsraum verließ, um eine Demonstration im Zentrum Moskaus anzugreifen.

Die rund 1.000 Protestierenden hatten sich versammelt, um auf den vierten Jahrestag der „Proteste vom 6. Mai“ gegen die Wiedereinsetzung von Wladimir Putin als Präsidenten hinzuweisen. Dabei wurden sie mit Wurfgeschossen attackiert. Ein Großteil der Protestführer wurde in Gewahrsam genommen.

Die Polizei griff zwar ein, doch erst nachdem mehr als 10 Personen verletzt ins Krankenhaus abtransportiert werden mussten. Keine der Verletzungen wurde als lebensbedrohlich eingeschätzt.

Ein Augenzeuge, der anonym bleiben möchte, gab an, gehört zu haben, dass die Gruppe der Angreifer aus St. Petersburg angereist war und dabei finanzielle Unterstützung ihres Arbeitgebers, der „Internet Research Agency“, erhalten habe – eine Firma, die als Troll-Fabrik gilt.

2014 von Anonymous International geleakte Dokumente deuteten hin auf eine großangelegte Kampagne, um online positive Meinungen über die Regierung zu verbreiten. Kreml-nahe Jugendgruppen zogen nicht mehr von Haustür zu Haustür, sondern besetzten bald diese neuen Positionen.

Putin wird 2018 für eine vierte Amtszeit zur Wahl antreten und seine Beliebtheit ist so groß wie nie. Und Kritiker merken an, dass er, um diese Position zu sichern, kontinuierlich politische Freiheiten beschneidet.

Der Aufstieg der Troll-Armee
(fortsetzung)

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Die Internet Research Agency, eine Kreml-nahe Firma, koordinierte zuletzt eine ganze Armee an Pro-Putin-Trollen, die große westliche Nachrichtenseiten angriffen. Der russischen Regierung, die unter größten Anstrengungen versucht, ihr Bild online zu kontrollieren – für Russland ebenso wie für den Rest der Welt –, ist Anonymous ein schmerzlicher Dorn im Auge.

Das Kollektiv veröffentlichte unangenehme Details eines Regierungsplans für inszenierte Demonstrationen der „öffentlichen Unterstützung durch das Volk“ und blamierte Medwedjew, indem es sich in seinen Twitter-Account hackte und seine 2,5 Millionen Follower „wissen ließ“: „Ich trete zurück. Ich schäme mich für die Handlungen der Regierung.“

„Vergebt mir … Ich will freier Fotograf werden. Das ist ein Traum, den ich schon lange hege“, gab der Account weiter bekannt, während der Premierminister nichtsahnend mit Putin auf der Krim weilte.

Ein Sprecher von Anonymous (auch bekannt als Shaltai Boltai) erklärte gegenüber Meduza, dass diese Aktionen als „direkte Antwort auf Russlands Beschneidung der Meinungsfreiheit und seine aggressive Außenpolitik zu werten ist“.

Was, wenn …?

Pro-Putin-Hacker drohen mit Angriff nach Sichtung von belastenden MI6-Daten

Eine Gruppe anonymer Hacker, die behauptet, dem Kreml nahezustehen, kündigt eine umfassende Cyberattacke auf die britische Hauptstadt an, nachdem sie sich Zugriff auf eine enorme Menge an Daten der GCHQ verschafft hat.

Die Hacker „e-nashi“ geben an, entsetzt zu sein über das „inakzeptable Niveau“ der Überwachung von russischen Bürgern in London durch den MI6 und drohen mit Vergeltungsmaßnahmen.

Ihre Botschaft haben sie direkt über die Website und die Social-Media-Kanäle der Stadtverwaltung verbreitet. Heute Morgen fanden Besucher von London.gov.uk für etwa zehn Minuten dort die Botschaft „Don’t get comfortable“ in Comic Sans. Identische Tweets folgten über @LondonAssembly, @MayorofLondon und @LDN_gov.

Eine ausführliche Drohung wurde weniger später per E-Mail an alle Mitglieder des Londoner Stadtrats verschickt.

Alex Younger, Chef des MI6, sagte noch kurz vorher, dass Großbritannien Teil eines „Post-Snowden-Wettrüstens“ sei, während neue Technologien genutzt werden, um die Sicherheitsdienste auszuspionieren. „Unsere Gegenspieler sind Terroristen, heimtückische Cyberaktivisten und Kriminelle“, fügte er hinzu.

Auch aus Londons Rathaus wurde gewarnt: „Während wir im Alltag immer abhängiger von unserer modernen Technik werden, steigt zugleich der potentielle Schaden, den ein Angriff auf unsere Systeme haben kann.“

Die Sorge gilt vor allem einem Angriff auf Kommunikations-, Transport- und Notfallsysteme. In Kombination mit einem Terroranschlag wären die Folgen für die Stadt verheerend.

Bereits 2012 gab es die Angst vor einem Angriff auf die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele, aber damals blieb es ruhig.

Schätzungsweise 150.000 Menschen russischer Herkunft leben in London. Manche sind aus politischen Gründen emigriert; manche seit den Kämpfen in der Ostukraine. Andere hingegen stehen unter Verdacht, für den FSB (ehemals KGB) zu arbeiten, der immer noch in England aktiv sein soll.

Der wohlhabende Teil von ihnen wurde kürzlich in der BBC-Show „Rich, Russian and Living in London“ porträtiert und auch Fox TV zeigte diesen Aspekt in „Meet the Russians“.

Das Snowden-Paradox

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Während Russland die Meinungsfreiheit weiter einschränkt, ersucht Edward Snowden als Botschafter der freien Meinungsäußerung in Moskau Asyl.

Es war 2013 und der ehemalige NSA-Mitarbeiter hatte soeben die größte Massenüberwachung seit Jahren öffentlich gemacht.

Nun Amerikas Staatsfeind Nummer eins die Hand zu reichen – dem Mann, der aufgedeckt hatte, wie intensiv Amerika seine Bürger überwachte –, schien Putin bestens in die Karten zu spielen. Und zuweilen wirkte es so, als sei Snowden bereit, sich auf das Spiel einzulassen.

Er wurde für Putins alljährlichen „Dialog mit (vorab ausgewählten Teilen) der Nation“ herangezogen, um öffentlich eine Frage zum Thema Überwachung vorzutragen. Snowden wurde vorgeworfen, Putins Propagandamaschine voranzutreiben, wenngleich seine Motive wohl ehrenhaft waren.

Andrei Soldatov und Irina Borogan, die sich seit seinen Anfangstagen mit dem „Red Web“ beschäftigen, gehen so weit zu sagen, dass die Anwesenheit Snowdens Putin die Möglichkeit gegeben hat, die Überwachungsprogramme des Kreml noch weiter auszubauen – also das genaue Gegenteil dessen, wofür Snowden eigentlich steht.

In den 2000ern stand die Regierung Russlands bereits vor dem Problem, dass die Daten auf Facebook, Google und Twitter – also Plattformen mit der Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung – auf Servern außerhalb Russlands gespeichert wurden. Server, die, wie Snowden später aufdeckte, durch die amerikanische Regierung in allen Einzelheiten kontrolliert wurden. Dies war für Putin eine „nicht hinnehmbare Situation“, so Soldatov und Borogan.

Für seinen Teil hat sich Snowden bereits gegen die Intentionen seines Gastgebers gestellt (und auch die schwulenfeindlichen Entwicklungen in der Gesellschaft kritisiert): „Ich will hier nicht leben“, gab er diesen Monat in einem Video bekannt, nachdem er einen Preis für den Kampf um freie Meinungsäußerung erhalten hatte, „aber Exil ist Exil.“

Was, wenn …?

Edward Snowden wird in Russland als Doppelagent verhaftet.

September 2016

Das russische Staatsfernsehen vermeldet, dass Edward Snowden aktuell verhört wird, da er unter Verdacht steht, ein Doppel- oder sogar Tripel-Agent zu sein.

Wie Interfax News berichtet, wird der 32-Jährige sich in den nächsten zwei Wochen vor einem russischen Gericht verantworten müssen. Grundlage dafür sind Beweise aus Ermittlungen des Geheimdienstes. Bisher ist nicht bekannt, für welche Organisation oder welche Organisationen er gearbeitet haben soll, aber aktuelle Spekulationen deuten auf die USA und China hin.

In Kürze wird Snowden in dasselbe Gefängnis verlegt, in dem auch Pussy Riot nach ihrem Protest in der Moskauer Basilius-Kathedrale inhaftiert waren.

Im Falle einer Verurteilung als Spion drohen nach russischem Recht bis zu 20 Jahre Gefängnis, doch sollten die Vermutungen sich bewahrheiten, wird ein Fall von derart hochrangigem Kaliber mit Sicherheit auf diplomatischer Ebene verhandelt – wenn auch möglicherweise im Dunkeln.

Ein Kommentar aus Washington steht noch aus.

Verschiedene Organisationen, die bisher mit Snowden zusammengearbeitet haben, sind überzeugt davon, dass die Anschuldigungen haltlos sind und er in Kürze freigelassen wird. Dem ehemaligen CIA-Mitarbeiter wurden zahlreiche Ehrungen zuteil, seitdem er sich gegen seinen früheren Arbeitgeber gestellt hatte.

Fox News bleibt seiner misstrauischen Linie treu und wirft die Frage auf, ob Amerika ausgetrickst werden sollte, als Snowden sein Wissen aus der sicheren Distanz Hongkongs enthüllte. Bereits zu Anfang des Skandals hatte Fox in Zweifel gezogen, dass ein kleiner CIA-Angestellter so umfassenden Einblick in relevante Informationen haben könne.

Zudem betont der US-Sender, dass der NSA-Skandal in weiten Teilen davon abgelenkt habe, inwiefern China die amerikanische Regierung ausspioniere. Die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern waren am Siedepunkt, und Snowden spielte den Koch, so schließen sie.

Im September äußerte Snowden, dass er in einer perfekten Welt wieder in den Vereinigten Staaten leben würde, ihn die drohenden Strafen jedoch bisher von einer Rückkehr abgehalten hätten. Ob Moskau ein sicherer Zufluchtsort ist, wird sich zeigen.